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Vorlesen

Vorlesen – Rezitieren ...

 

Wo Schrift aufkommt, drängt sich jedoch die schriftliche Fixierung des Epos auf. Im Dienste der Rapsoden entsteht die ‚Literatur’, freilich noch nicht als Lesestoff, sondern als Vortragsstoff.“

Quelle: Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke Bd. 1 (=Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik). Tübingen 1990, S. 165

 

 

„Kulturgeschichtlich ist dann auch die große Epoche des Vorlesens jene Zeit gewesen, in der zwar die Schrift erfunden, aber ihre Beherrschung aus technischen und sozialen Gründen Privileg einer kleinen Minderheit gewesen war – also etwa die Zeit von den frühen Hochkulturen bis zur Erfindung des Buchdrucks: immerhin fast fünf Jahrtausende. [...] Vorlesen war ein Beruf. Dem Akt des Vorlesens aber korrespondierte auf der anderen Seite die Fähigkeit und Bereitschaft zuzuhören. Frühe Schriftkulturen, das dürfen wir nicht vergessen, sind deshalb immer auch Hörkulturen gewesen – daran erinnert vielleicht noch, daß unser Wort Vernunft eine Substantivbildung zu vernehmen ist, und daran gemahnt die Bedeutung der Lesung im sakralen und juristischen Bereich bis heute.“

Quelle: Lissmann, Konrad Paul: Über Nutzen und Nachteil des Vorlesens – eine Vorlesung über die Vorlesung (= Wiener Vorlesungen im Rathaus Bd. 25). Wien 1994, S. 26 f.

 

 

„Lautes Vorlesen ist heute fast ausschließlich für Kinderohren reserviert, lautes Rezitieren nur noch dem Publikum in Theatern und literarischen Live-Performances vorbehalten. Bis weit in die Moderne hinein wurden dagegen alle Arten von Texten sowohl gehört wie gelesen, im Mittelalter sehr oft auch aufgeführt. Die stimmliche und körperliche Aufführung eines geschriebenen Textes ist eine seiner wesentlichen ästhetischen Dimensionen und eine der wichtigen sozialen Existenzformen von mittelalterlicher Literatur. Das Lesen in den Klöstern und an den Adelshöfen des Mittelalters war ein gemeinschaftlicher, kein privater Akt: Man las einander vor, man rezitierte in der Festgemeinschaft. In Klöstern bildete die Liturgie den Mittelpunkt des täglichen Lebens. Sie war - vom Singen des Stundengebets im Chor über die Tischlesung bis hin zum murmelnden »Kauen« von Gebeten im Kreuzgang - nichts anderes als eine ritualisierte Form des Lesens durch eine Gemeinschaft, deren Selbstverständnis in der Produktion wie im Nachvollzug autoritativer Texte wurzelte.

Der Wechsel vom Vorlesen in der Gemeinschaft zur individuellen Privatlektüre, mithin der Übergang vom lauten zum leisen Lesen, vollzog sich im Verlauf des Mittelalters in einem langsamen Prozess, in dem wir uns die verschiedenen Formen der Textrezeption für geraume Zeit simultan vorstellen müssen. Wesentlich an dieser Kernbedingung von mittelalterlicher Literatur ist, dass der schriftliche Text sehr eng an den Körper (der zuhörenden, lesenden, rezitierenden, singenden Menschen) gebunden blieb. Seine volle Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit kann ohne die performative Aktualisierung historisch kaum gedacht werden. Die Stimmen der lesenden und vorlesenden Menschen [...] erfüllten die Predigten und Beichtformulare, die Gedichte und Hymnen, die Listen für die Klosterverwaltung und Visionen mit Leben. Das uns überlieferte Wort auf dem Pergament oder Papier ist letztlich nichts als eine Hohlform, welche das gesamte Potenzial des gesprochenen Wortes nur erahnen lässt. Dies gilt für jene Meisterwerke der mittelalterlichen Literatur [...] nicht minder als für die poetisch weniger eindrücklichen oder die pragmatischen Texte.“

Quelle: Hamburger, Jeffrey F. u.a.: Stimmen aus Mittelalterlichen Frauenklöstern. Ein Hörbuch mit geistlichen Texten auf Altsächsisch, Mittelhochdeutsch und Mittelniederdeutsch. Berlin 2005, S. 5f. (Bocklet zum gleichnamigen Hörbuch; erstellt im Kontext der Ausstellung Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern - Ruhrlandmuseum / Essen und Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland / Bonn 2005)

 

 

„Zwar war das Vorlesen auch in sozialen Situationen zu finden, in denen auch die Zuhörer von ihrer eigenen Lesefähigkeit her hätten lesen können, und in denen es etwa im Rahmen einer autoritativen Lesesituation oder aber zur Steigerung des Leseerlebnisses eingesetzt wurde.[...] Im 18. und 19. Jahrhundert war gemeinschaftliches Lesen ein in allen sozialen Millieus weitverbreitete Beschäftigung.“

Schön, Erich: Geschichte des Lesens. In: Bodo Franzmann u.a. (Hg.): Handbuch Lesen. Baltmannweiler 2006, S. 37.

 

 

„Reproduktion [eines Textes, im Gegensatz zum stillen Lesen] ist etwas anders, da handelt es sich um eine neue Realisierung im sinnlichen Stoff der Klänge und Töne – damit um so etwas wie eine Art neue Schöpfung. [...] Es handelt sich ja nicht um eine völlig freie Schöpfung, sondern um nichts als, wie das Wort so schön andeutet ‚Aufführung’, durch die das Verständnis eines fest fixierten Werkes zu einer neuen Realität heraufgeführt wird. [D]er gute Vorleser darf keinen Augenblick vergessen, daß er nicht der wirkliche Sprecher ist, sondern einem Lesevorgang dient.“

Quelle: Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke Bd. 2 (=Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen). Tübingen 1993, S. 17 ff.

 

 

Wie das Pferd verschwindet aber auch das Vorlesen nicht, sondern mutiert wie dieses vom einstens Notwendigen zum Luxus.“
Quelle: Lissmann, Konrad Paul: Über Nutzen und Nachteil des Vorlesens – eine Vorlesung über die Vorlesung (= Wiener Vorlesungen im Rathaus Bd. 25). Wien 1994, S. 18 f.

 

 

,,In der Weise aber, in der das Vorlesen und die Vorlesung verschwinden, schwinden auch – so steht zu vermuten – die Fähigkeit und die Bereitschaft des Hörens und Zuhörens. Wenn aber nichts mehr zu vernehmen sein wird, wird auch die Vernunft an ein Ende gekommen sein. Zu wünschen bleibt, daß mit dem wiedererwachten Interesse an der Form der Vorlesung nicht nur einem Trend der Freizeitindustrie gehorcht, sondern auch diesem Schwinden der Vernunft Widerstand geleistet wird. Mit einem Wort: Man sollte auf die schöne Einrichtung der Vorlesung nicht verzichten, auch wenn damit nicht der Erfordernissen der Gegenwart gehorcht, sondern einer Idee gehuldigt wird, die vergangen ist, ohne vielleicht je wirklich gewesen zu sein.“

Quelle: Lissmann, Konrad Paul: Über Nutzen und Nachteil des Vorlesens – eine Vorlesung über die Vorlesung (= Wiener Vorlesungen im Rathaus Bd. 25). Wien 1994, S. 56

 

 

... im Gegensatz zum Schauspielern

 

Der Autor B. Spinnen:

„[B]eim Vorlesen wird ein Text nicht nur laut. Es geschieht viel mehr: Eine schriftliche ‚Nachahmung’ gesprochener Sprache wird in lebendige Sprache übersetzt, die beim Zuhörer eine Fülle von Vorstellungen evoziert. [...] Um diese Übersetzungsleistung zu repräsentieren, muss, ja darf ich nicht übertrieben schauspielern. Jede Ablenkung vom Text wäre, so attraktiv oder entlastend sie im Moment vielleicht sein mag, bloß kontraproduktiv. [...] Um die Vermittlung einer Textintention aber geht es in einer literarischen Lesung viel mehr als um den Wohlklang – eben weil es bei jedem Lesen genau darum geht!“

Quelle: Spinnen, Burkhard: Auswärtslesen. Mit Literatur in die Schule. Eine Litanei. St. Pölten / Salzburg 2010, S. 53 ff.

 

 

Der Sprecherzieher U. Schürmann:

Beim Vorlesen "'verkörpern' wir keine Personen. Wir schlüpfen nicht in Rollen, sondern bleiben immer diejenigen, die den Text (mehr oder weniger distanziert) vorstellen. Das schließt nicht aus, dass wir uns bei der Interpretation in die jeweiligen beschriebenen Gedanken und Handlungen hineinversetzen. Das ist sogar unabdingbar. Allerdings werden wir immer nur so viel schauspielerische Elemente nutzen, wie sie für das Verstehen und Erleben der Texte notwendig sind - und diese damit keinesfalls in den Hintergrund drängen."

Quelle: Schürmann, Uwe: Vorlesen und Vortragen leicht gemacht. München/Basel 2010, S. 22

 

 

Der Schauspieler, Dramaturg und Hörbuchproduzent H. Eckardt:

„Es ist ein weit verbreiterter Irrtum, dass Schauspieler berufsbedingt besonders viele Voraussetzungen für eine mitreisende Lesung erfüllen. Sie haben geschulte, ausdrucksstarke Stimmen und erfüllen damit eine, aber nur eine Voraussetzung für den Beruf des Hörbuchsprechers. Alle anderen erforderlichen Fertigkeiten sind keineswegs allein an die Fertigkeiten eines Schauspielers gebunden. Dessen Talent, eine Bühnenfigur mit Leben zu erfüllen, unterscheidet sich im Gegenteil ganz grundsätzlich von der Aufgabe eines Hörbuchsprechers, der die Rolle des Erzählers zu übernehmen hat und innerhalb dieser Rolle, handelnden Personen - vor allem dem Autor - Stimme verleiht. [...] Er wird ein sich zurückhaltender Vermittler zwischen Autor und Hörer sein.“

Quelle: Eckardt, Hans: Kleine Einführung in die Kunst des Hörbuchsprechens. In: Hörproben. Verlag und Studio für HÖRBUCH – Produktionen 1995.

 

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